Glücklich mit Rimbaud
- Paul Auer
- 5. Mai
- 6 Min. Lesezeit

Literarische Pilgerfahrten liegen mir eigentlich fern. Einmal habe ich derlei gemacht, mit Anfang zwanzig, als ich während einer Interrail-Reise nach Charlesville in den französischen Ardennen kam. Mich wird schon die Stadt an sich interessiert haben, aber hauptsächlich fand ich es cool (das einzig richtige Wort an dieser Stelle), das Grab meines Heroen Arthur Rimbaud zu besuchen. Ich kann mich dunkel erinnern, auf seiner steinernen Einfassung gesessen zu sein, drahtig, gebräunt und verwildert, mit transsilvanischer Erde, polnischem Ostseesand, Amsterdamer Graskrümel und italienischen Blumensamen auf den Sohlen meiner auseinanderfallenden Wanderschuhe. Mein T-Shirt hatte ich ausgezogen, eine Zigarette hatte ich mir gedreht, und da ich noch kein Handy besaß, geschweige eines, das Fotos schießen und in die Welt versenden konnte, war das ein unglaublich intimer Moment zwischen dem Toten und mir; nicht nur, weil ich ihn nicht zwecks Selbstvermarktung teilen musste. Rimbaud und mich verband die tausenden Kilometer Weges quer durch Europa, die in unseren Beinen steckten, aber mehr noch der Spott fürs Akademisch-Hermeneutische, den wir teilten: denn ich wusste, dass Rimbaud wusste, dass mich wie die meisten seiner postgymnasialen Fanboys an ihm nicht so sehr das lyrische Werk, dessen Techniken und Traditionen selbst faszinierte (das schon auch, wie auch nicht?, seine Texte sind lustvoll und voller Sex und wunderschön und strotzen vor Liebe und Sehnsucht und Ewigkeit und Geheimnis, sie sind ein Zeugnis über die irre und gefährliche und faszinierende Kraft, die in einem jungen ungestümen Menschen liegt), sondern mich vor allem sein Leben umtrieb; seine Triumphe, seine Ausschweifungen, seine Tragödien. Und da ich selbst, wie das so ist mit Anfang zwanzig, sehr das Gefühl hatte, in solch einem Leben zu stecken, überall Triumphe, überall Ausschweifungen, überall Tragödien, war ich in diesen Minuten an Rimbauds Grab nicht nur drahtig, gebräunt und verwildert, sondern auch und vor allem: glücklich.
Wie das? Was bewirkte Rimbauds Leben in mir? Ein Genie aus La France Profonde, der rebellische Jüngling schlechthin, schreibt mind-blowing Gedichte, findet inmitten revolutionärer Unruhen den Weg in die schriftstellerische Elite von Paris, führt sich dort auf wie das sprichwörtliche enfant terrible, geht eine Amour fou mit einem älteren Kollegen ein, was zwangsläufig in Schießereien und Psychiatrien mündet und schließlich zur Abkehr vom Schreiben mit knapp 20 Jahren und einem unsteten Leben als Abenteurer mit allerlei geschäftlichen Aktivitäten (Waffenhändler!) führt. Dem macht noch vor dem 40. Geburtstag eine Krebserkrankung den Garaus. Bang! Das kann man als junger Mensch mit schriftstellerischen Ambitionen und romantischer Ader eigentlich nur für ein gelungenes Dasein halten, bietet es doch alles auf, was jemanden zum Popstar, zur idealen Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Authentizität schlechthin macht, und um diese geht es jungen Menschen doch. Da hat sich einer nicht verbogen, da ist sich einer bis zur letzten Konsequenz treu geblieben! Drugs, sex and literature! Es ist daher nur allzu verständlich, dass es uns im Falle Rimbauds mehr kümmert als üblich und für sprachliche Puristen opportun, „wer spricht“, scheint es doch widersinnig, sich mit dessen verschriftlichten Werk ohne Sidesteps in seine Biografie auseinanderzusetzen. Wenn man diese dann zuweilen sogar für interessanter als die Texte selbst hält, ist das keine Schande und muss niemanden dem Vorwurf der mangelnden intellektuellen Ernsthaftigkeit , der Oberflächlichkeit aussetzen, nicht nur weil Personenkult und Voyeurismus zutiefst menschliche Neigungen sind, die sich zu allen Epochen in allen Gesellschaftsgruppen wiederfinden, sondern weil sie natürlich durchaus dem Verständnis eines Werks dienen können. Gewiss, wie alles Menschliche treibt auch die Auseinandersetzung mit der Biografie eines Künstlers zuweilen übertrieben Blüten, die das eigentliche Werk verschatten, obwohl sie selbst nicht einmal besonders gefällig duftet oder üppig wuchert; aber das passt gut in narzisstische Zeiten der Selbstdarsteller wie den unseren, in denen es wichtiger scheint, wer ein Mensch ist als wie er handelt, wenngleich es nichtsdestoweniger ein bislang noch allgemein verständlicher wesentlicher Unterschied bleibt, ob auf jenes biografische Podest ein durchschnittlicher Babyface-Debütant mit xy Studium (Literatur) und xy Herkunftsgeschichte (Bürgertum, hie und da migrantisch) gehoben wird, oder aber einer wie Rimbaud, der am Ende seiner Teenagerjahre bereits potentiellen Stoff für mehrere Kolportage-Romane erlebt und darüber hinaus tatsächlich etwas zu sagen hatte.
Denn die Faszination für Rimbauds unstetes Leben nährt sich natürlich auch aus der Faszination für die Außergewöhnlichkeit seiner Kunst; wäre er bloß ein mittelmäßiger Dichter gewesen, sein Dasein wäre bei weitem nicht so interessant und längst vergessen, während umgekehrt sein literarischer Ruhm durch ein biederes langes Leben, das mit einem Grabmal im Pariser Pantheon gekrönt worden wäre, wohl keine Einbußen erfahren hätte. So aber liefert Rimbaud endlos Gossip und Substanz gleichermaßen und taugt jedem mit sich und der Welt hadernden Schaffenden als Kronzeuge des persönlichen künstlerischen Identitätsrisses, des ewigen Gegenübers und Gegeneinanders von „Leben“ und „Kunst“, weil sein Dasein nun mal all die wesentliche Fragen aufwirft, die für Künstler vor allem am Beginn ihres Weges nur allzu oft (und allzu oft affektiert) bewegend sind: Kann Kunst, kann Schriftstellerei ein Beruf sein, der institutionalisiert ausgeübt wird? Kann es überhaupt ein Beruf sein? Ist der verbeamtete Schriftsteller nicht Tod jeglicher Verbindung zu spontaner Kreativität und triebhafter Inspiration? Sterben nicht deswegen die besten Künstler jung, weil sie sich damit die Verbürgerlichung ersparen, fett, angepasst und denkfaul zu werden? Kann man schreiben und dennoch glücklich sein? Soll man das überhaupt? Insgesamt spiegelt sich in Rimbauds kurzer Vita also die alles entscheidende Frage für einen Autor: Ist es nicht erstrebenswerter, wie in einem Roman/Gedicht zu leben als bloß einen Roman/ein Gedicht zu schreiben, zumal dann, wenn das Schreiben zur sublimierenden Routine verkommt und das Immergleiche markttauglich reproduziert? Würden nicht unsere saturierten Großschriftsteller mehr Leben erfahren, wenn sie nach dem zweiten „Spiegel-Beststeller“ Waffenhändler werden oder wenigstens Eisverkäufer? Dichter könnten sie ja weiterhin sein, sogar sehr konkrete, und das wäre nicht einmal anmaßend. Gemäß H.C. Artmann sei für die Existenz als Dichter nicht zwangsläufig das Verfassen von Gedichten eine Voraussetzung, vielmehr eine bestimmte Haltung zur Welt, unabhängig von sprachlichem Talent oder literarischer Könnerschaft. Beides kann man Rimbaud nicht absprechen, was seine Entscheidung, bereits nach wenigen sehr produktiven Jahren das Schreiben hinter sich zu lassen, sein Talent und seine Könnerschaft also nicht bis zum Äußersten zu nutzen, noch skandalöser erscheinen lässt für unsere Ohren, die von den Parolen zur Selbstoptimierung der vergangenen Jahrzehnte, vom Befehl in Permanenz, dass man das Beste aus sich rausholen müsse, noch ganz schön schlackern. Hätte er doch wenigstens über seine Abenteuerjahre ein autofiktionales „Aufreger“-Mammutwerk á la Knausgard verfasst, gibt und gab es doch von Casanova bis Hemingway immer wieder Schriftsteller oder zumindest schreibende Menschen, die sich aus dem Elfenbeinturm der schönen Künste und zarten Seelen herauswinden und dem echten, rauen Leben stellen. Aber nichts da! Rimbaud hielt sich strikt an seine selbst auferlegte Abstinenz und hatte mutmaßlich überhaupt kein Interesse, als Wolf Wondratschek der Belle Époque einem bürgerlichen Publikum ein wenig von dem Kitzel der eigenen verlorenen Lebendigkeit zurückzugeben, durch die Schilderung eines wilden Lebens jenseits von Salon und Samowar den Ennui des Klein-, Groß- und Mittelbürgers aufzupeppen. Denn nur so tickt ein echter Dichter: Er denkt nicht ans Publikum, wenn er schreibt, aber schon gar nicht denkt er ans Publikum, wenn er nicht schreibt.
Das alles ging mir wahrscheinlich oder wahrscheinlich auch nicht durch den Kopf, als ich mit Anfang zwanzig am Friedhof von Charlesville neben Rimbauds Grab saß; definitiv nicht dachte ich ans Publikum, wie denn auch, ich hatte ja noch gar keines. Anders als das Wunderkind Rimbaud, der in meinem Alter seine literarische Karriere bereits hinter sich gelassen hatte, stand ich, meist verloren, noch sehr am Anfang und hatte vor allem eine Art Vision: Wie für (zu) viele andere junge Menschen mit wenig Ahnung schien mir der Weg des Schriftstellers als verlockende Möglichkeit, dem drögen Alltag eines durchschnittlichen Lebens zu entgehen, wofür Rimbaud plastisch wie kein zweiter stand. All die Selbstzweifel, all die Rückschläge, all die Einsamkeit, all die Unsicherheit, all die übermächtigen Gatekeeper, all die in gekrümmter Haltung unbelohnt zugebrachten Stunden zum Trotz, in denen man sich nichts sehnlicher wünscht als mit seinem Werkschaffen zu verschmelzen und in den berühmten Flow zu kommen, ein Gefühl der absoluten Kongruenz von äußerer wie innerer Welt, ähnlich dem auf einer längeren Reise, wenn man sich nach den Holprigkeiten der ersten Tage und der Entwöhnung vom alltäglichen Komfort gar kein anderes Leben mehr vorstellen kann als das zwischen Bahnhöfen, Gasthäusern und Waschsalons, weil plötzlich alles rund läuft und jeder freundlich ist, alle Wege zu einem überraschenden Ziel führen und es in jeder Nacht ein Bett gibt ... Das comicstriphafte Dasein eines Vagabunden auf Europas Straßen und darüber hinaus, eines Suchenden, eines, der dem „Leben“ im allumfassenden Sinn auf der Spur sein will und in den Momenten glücklich ist, wenn er es gefunden hat und eine rauschhafte Weile mit ihm verbringen kann, weil ihm eine gute Zeile gelungen ist, weil er eine pittoreske Bahnstrecke entlangfährt, weil er einen Roman abgeschlossen hat oder weil er an einem Nachmittag im Juli neben Rimbauds Grab sitzt, drahtig, gebräunt, verwildert, und eine Zigarette raucht. Er versteht plötzlich, dass Rimbauds Abkehr vom Literaturbetrieb deswegen wichtiger ist als sein lyrisches Werk, weil es uns vor Augen führt, dass es immer Alternativen zu einst mit Überzeugung eingeschlagenen Wegen gibt; dass Rimbaud plastisch wie kein zweiter nicht nur für die nicht-biedere Variante des Schriftstellerlebens steht, sondern auch für dessen Überwindung: weil man wie er Vergangenes loslassen darf und manchmal auch sollte, und weil ein neuer Weg nicht unbedingt einen Verrat an sich selbst bedeuten muss, sondern vielmehr eine Befreiung bedeuten kann; vor allem aber, dass man im Sinne Artmanns auch als Nicht-schreibender Mensch ein Dichter zu sein vermag, ein Dichter bleibt, sofern man lernt, Wahrnehmungen und Erfahrungen zu verdichten, nicht am Papier sondern im Körper, mit den Sinnen, im Verstand; ob als Waffenhändler, als Eisverkäufer oder als Reisender. Vielleicht sogar als Schriftsteller. Das Glück macht hierbei keinen Unterschied, denn so flüchtig es scheint, so unprätentiös ist es auch.
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