patrouille
Statt einer Biografie
Meine Füllfeder schweigt. Die schwarzen Wolken haben sich verzogen, der Wind ist geblieben, peitscht das Wasser gegen die Felsen, zerstreut die heißen Strahlen der Sonne zu einem angenehmen Streicheln auf meiner Haut; bläst den Schmutz des Alltags weg, nicht aber die Illusion, dass es sich ohne diesen Schmutz schreiben ließe. Trotzdem wird die Sicht frei auf Träume, die schon vergangen sind und im gelähmten Knock-Out eines Großstadtdaseins verborgen bleiben müssen; damit man nicht eines Tages aufsteht und sich gleich wieder zu Bett legt mit dem Gedanken: Was soll´s?
„Versuchen wir, uns einzufügen“, sagt meine Füllfeder endlich. „Sinnen wir nach dem Ursprünglichen, Seelischen, Tiefgründigen, oder verbleiben wir in der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie, fokussieren unser Interesse auf die Beziehung zwischen Objekt und Betrachter und vernehmen die Bedürfnisse unseres wahren Wesens nur wie interessante Bilder in progressiven Museen? Lass uns das klären! Eitelkeiten sind nie schlecht beim Ergründen der eigenen Motivation! Lassen wir uns von der These das Maul stopfen, radikale Veränderungen in der Gesellschaft und im Staate sind Früchte einer lang anhaltenden und effektiven, in jedem Falle aber radikalen Veränderung im Einzelnen: Individuen liquidieren Serviceschalter. Und Veränderungen in dir finden nur über mich statt! Lass uns insbesondere lieben und Gott nicht länger unterschätzen. Denn ihm alleine ist es zu verdanken, dass uns der Geruch der Traumdeutung vergönnt ist. Nur beseelte Geschöpfe vermögen zu träumen. Hören wir zu träumen auf, so werfen wir unsere einzige Chance achtlos in den Müll.“
Der Wind wird stärker, formt sich zu einem brüchigen Pfeifen, das Meer spritzt schäumende Wasserzungen an die Steinküste. Tropfen bestäuben die Blüten des Löwenzahns, der hier von einzigartiger Farbe ist, fast Schönbrunngelb. Die Fassaden der Häuser dagegen sind in ruhigen Tönen gehalten; nichts Schrilles, nichts Auffälliges soll dem Türkis des Meeres die Pracht streitig machen.
„Der nächtliche Traum“, sage ich und höre meine Stimme kaum, „ist in der Tat Gottes beste Erfindung. Weil jener sich nicht durch die Medien- und Konsumwelt hinters Licht führen lässt; irgendwann buddelt sich alles frei, gräbt sich durch die Anhäufungen von eingeübten Verhaltensweisen und fragt: Was ist damit? Wann schreibst du davon? Von deinem Heimatort etwa, dem Blick vom Südufer des Sees auf das romanische Stift; oder von Rarotonga, jener mythischen Insel im Südpazifik, über die dir dein Vater so viel erzählt hat; und was ist mit den alten Wiener Bahnhöfen, von denen Zugstrecken ihren Anfang nahmen, die ein längst verdammtes Reich vermaßen … wann schreibst du davon, wann?“
Ich stehe mit Tränen in den Augen auf Pyramiden, im Versuch, mit der Spitze meiner Füllfeder den Urmenschen zu berühren, die Sprache zu erlernen, mit Hilfe derer sich Natur und Technik erst wirklich entfalten, die ausdrücken kann, was selbst einem Gedanken schwer fällt; und die mich der Schöpfung wieder nahe bringt, wie es einst gewesen ist, bevor wir sie verloren haben. Ich trage die zu schreibenden Zeilen mit mir und erfahre von belehrenden Ideologen, wie es um mein Verhältnis zu den zu schreibenden Zeilen beschaffen sei, von belehrenden Ideologen, die ihrerseits die zu schreibenden Zeilen abgeschafft haben und sich mit ihren unerfüllten Sprachträumen beschäftigen; sodass sie kaum ausreichend genaue Blicke auf meine Pyramiden werfen können … träume ich nicht bloß von Liebe?
„Die Liebe“, sagt meine Füllfeder, „ist degradiert auf politische Grabenkämpfe, politische Grabenkämpfe sind degradiert auf alte Hüte und alte Hüte werden auch nur mehr im Karneval getragen. Und dennoch – du mogelst dir die Freiheit vor und findest sie wohlwollend wieder in den Stunden der Nacht, aber ich kann mich mit solchen Mechanismen nicht abfinden und dich fragwürdig zwischen radikalen Geschichten und der blanken Wirklichkeit pendeln sehen, immer in der Befürchtung, der viel beschworene Mittelweg zwischen heißen Kohlen und spitzen Dornen brächte auch nur durchschnittliche Resultate, sei ein nettes Förderband, das dir höchstens eine angenehme Fußmassage bescherte. Wenn es allerdings dieser Weg sein sollte, der nicht nur an erschwinglichen Rasthäusern mit lauschigen Gastgärten vorbeiführte, sondern uns auch in jene Epoche brächte, in der Fiktion und Realität keine Duelle mehr auszutragen hätten und das Lachen ein wenig verlockender klänge …“
„ … so bestünde für mich“, unterbreche ich sie, „der auf der Pyramide steht und starrt, auch kein Zweifel daran, dass die Massage nur dann ihre volle Wirkung entfalten könnte, wenn ich an den Füßen eine Hornhaut trüge, eine Hornhaut resistent gegen Kohlen und resistent gegen Dornen.“ Ich tauche in das Meer ein, bewundere Korallen, lächle Fischen zu; ich möchte arabische Städte ergründen, sibirische Kälte erleben, tibetanisches Hochland bereisen und zum Schluss einem alpinen Bergbach entsteigen. Ich möchte als Medium wirken, in welches die Welt einfließt und das Licht herausströmt – was soll das Schreiben, hinter dem die Person verfällt, weil sie zurücktreten muss, der Geschichte zuliebe?
„Das Leiden haben wir doch schon überwunden!“ mahnt meine Füllfeder. „Wir frönten den Genüssen, bis wir sie alle in ihrer Wirkung erforscht haben, wir exerzierten die Liebe, bis sie uns zu Höhepunkten und Enttäuschungen geführt hat, und auch der Musik konnten wir einige Statements abringen, bis sie im Dilemma der Seichtheit versunken ist. Wir sind hier, frei und geschunden, vor allen offenen Toren – vor Menschen, die unsere Freunde sein könnten, vor Existenzen, die unsere Erfüllung sein könnten, vor Landschaften, die unser Zuhause sein könnten, vor Worten, die unsere Geschichten sein könnten. Du zitterst und sehnst dich nach dem einen, wahren, ursprünglichen Wesen, und vielleicht hast du es nie gekannt, doch die Hoffnung, dass wir es eines Tages gemeinsam entdecken werden, treibt uns weiter und lässt uns glauben. So gesehen müssen wir unsere Stärke bewundern!“
„Wenn wir“, sage ich, „die gelbe Fassade des Stiftgebäudes meines Heimatortes im Sonnenlicht leuchten sehen. Wenn wir auf Rarotonga tanzen und singen. Wenn unser Zug den Nordbahnhof in Richtung Lemberg verlässt. Und wir in der Neuen Freien Presse blättern. Dann können wir unsere Stärke bewundern.“
Der Wind ist abgeflaut. Der Himmel wolkenlos. Das Meer völlig ruhig. Ich lächle, nehme meine Füllfeder und wir notieren: „Schreiben ist Träumen, Träumen ist Gottesdienst. Sprachräume sind voller Kinderstimmen, Schreibwelten voller Heiliger.“
Dann legen wir uns ins Gras und warten auf die Nacht. Den Schlaf. Den Traum. Die Worte.
Mauern
Septime Verlag
165 Seiten
September 2022
Es könnte so schön sein: Der Schriftsteller Joshua hat nach fast anderthalb Jahrzehnten Schreibarbeit endlich sein erstes Buch veröffentlicht. Außerdem ist er durch ein stattliches Erbe schlagartig wohlhabend geworden. Nach Jahren als ärmlicher Bohemien, der in einem »Wohnloch« hauste, ist sein neues Domizil eine luxuriöse Dachgeschoßwohnung am Wiener Burgring. Doch das Glück ist getrübt. Kürzlich hat ihn seine Freundin Carmen verlassen. Für Joshua eine unverständliche Kränkung. Und wovon sein nächster Roman handeln soll, weiß er auch nicht so recht. Will er überhaupt noch ein Buch schreiben? Hat er es nötig? Steht ihm nicht vielmehr ein beschauliches bürgerliches Leben zu, gediegen und gemütlich, ohne große Anstrengung? Wäre da nicht seine Ruhmsucht ... Und eine Frau an seiner Seite sollte doch auch nicht fehlen. Da trifft es sich gut, dass er in der ersten Nacht in seinem neuen Zuhause überraschenden Besuch bekommt: Es ist niemand Geringerer als Luzifer, begleitet von seiner Liebhaberin und einem Teenager. Wenn diese Bekanntschaft nicht Stoff für ein sensationelles Werk ist, eines, mit dem Joshua gewiss großen literarischen Ruhm erlangen und, noch wichtiger, Carmen zurückgewinnen wird ... Er fasst den Entschluss, den ultimativen Roman zu schreiben, ein »Weltbuch«.
Mauern ist eine tragikomische Reflexion über die Triebkraft des Künstlers und seine Angst vorm Scheitern, eine Parodie auf toxische Männlichkeit, sendungsbewussten Größenwahn und den mit sich und der Welt ringenden Schriftsteller – ein Buch, das vom Irrsinn handelt, ein Buch zu schreiben.
Fallen
Im Leben des Mittzwanzigers Christian passieren seltsame Dinge. Seine neue Nachbarin hat rote Augen und beherbergt zwei geheimnisvolle Flüchtlinge. Immer öfter träumt er davon, wie die Geschichte Jesu nach der Kreuzigung weitergegangen sein mochte und spinnt sich in eine Sage über den Teufel ein, die seine Familie seit Generationen in Atem hält. Ein ominöses Foto bringt ihn und seinen Freund Stefan dann auf die Spur einer Verschwörung. Hatte Christian sich nicht längst mit seinem unspektakulären melancholischen Alltag arrangiert? Umso verstörender, welch unerbittlichen Sog die Fiktion ausübt, wie sie nach und nach die behagliche Normalität auslöscht. Bald wird ihm klar, dass er seinen ganzen Heldenmut zusammennehmen, die Grenzen seiner Wahrnehmung sprengen und sich seinen schlimmsten Ängsten aussetzen muss. Ist er in dem Spiel das Opfer oder ist er der Täter? Ist er wirklich der, für den er sich hält?
Können wir die Bedingungen unseres Schicksals verstehen, und wie weit würden wir gehen, um herauszufinden, wer wir sind? Ein märchenhafter Roman über die Wirkmacht von Mythen, Träumen und Traumata, über Identität und die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Vor allem aber erzählt "Fallen" von einer großen Freundschaft, einer Liebe, die jede Grenze, selbst die des Todes überwindet.
Kärntner Ecke Ring
Der 60-jährige Ludwig Bilinski könnte ein unbeschwertes Leben als wohlhabender Großbürger führen. Berufliche und private Enttäuschungen haben den früheren Kreisky-Anhänger jedoch verbittert. Unter einem Pseudonym hat er sich einen Namen als Verfasser von hetzerischen Leserbriefen gemacht; in seinem Dachboden steht ein Modell vom Wien seiner Träume; und als endgültige Rache an der Welt plant er, die seiner Meinung nach hässlichsten Gebäude der Stadt in die Luft zu sprengen. Dadurch will er als Retter der Schönheit Wiens in die Geschichte eingehen, seinem Leben zu guter Letzt Sinn verleihen.
Die einzigen Menschen von Bedeutung für ihn sind Norbert, ein Stricher, und dessen Mutter Tamara, eine Verkäuferin. Er trifft sie jeden Samstag getrennt voneinander zu festgesetzten Zeiten, um seine sexuellen beziehungsweise emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Von ihrer jeweiligen klar definierten Rolle im Leben Bilinskis wissen die beiden nichts. Als Norbert in seiner Jugend in die Neonazi-Szene abdriftet, bricht der Kontakt zu seiner Mutter ab.
Bilinskis Egozentrismus kollidiert zusehends mit den Sehnsüchten und Wünschen, die er in Norbert und Tamara weckt. Während er voller Vorfreude seinem apokalyptischen Coup entgegensieht, gerät das auf ihn zugeschnittene Beziehungsdreieck außer Kontrolle. Obwohl er sich für allmächtig hält, droht er, wie Norbert und Tamara, an den Gefühlen der drei zueinander zu zerbrechen.