Also wieder Schulhausroman, mittlerweile die vierte Klappe. Zugegeben, skeptisch war ich diesmal, mehr als sonst, wahrscheinlich bin ich es immer noch. Denn ich wurde ja, um die neumodische Veralberung psychopathologischer Begriffe zu bemühen, schwersten traumatisiert bei meinem letzten Einsatz als Schreibcoach.
Das war im Herbst 2021, in der kurzen Zeit zwischen Lockdown drei und vier oder sieben und acht, wer weiß das schon noch so genau. Jedenfalls waren die Kinder ziemlich gaga. Drüber, dissozialisiert, sozusagen. Zudem an einer sogenannten Brennpunktschule, und in dieser bildeten sie die, wie es hieß, „ärgste“ Klasse. Prekäre Verhältnisse, viel Migrationsgeschichte, klassisches Schulhausroman- Klientel demnach, indes mit dem Corona-Krönchen oben drauf. Ja, this was the rough way, but I survived. Obwohl ich mich erinnere, hie und da während der Einheiten mit dem Gedanken gespielt zu haben, einfach zu gehen. Die Klasse wortlos zu verlassen, weg von diesen lärmenden, undisziplinierten, verlorenen Kindern, sollten sie sich die Schädel einschlagen, mir egal. Doch ich blieb und: Es kam sogar eine Geschichte raus. Gar keine so schlechte, wie ich finde, die Klasse und ich hatten uns zusammengerauft. Bloß die Lesung fiel aus, weil eben Lockdown Nummer vier oder acht ausgerufen wurde, man die Kinder nach ein paar Wochen der Normalität schon wieder ins vermeintlich heimelige Ausgedinge schickte. In kleine Wohnungen, wo sie sich den Küchentisch fürs euphemistisch Homeschooling genannte Abgeschnittensein mit ihren Geschwistern teilen mussten, weil ein Wochenendhaus im Waldviertel oder am Semmering hatten diese Familien nicht, deren Wohnungen auch keinen Balkon, wahrscheinlich nicht mal ein eigenes Zimmer für die Sprösslinge.
Aber das ist Schnee von gestern. Mittlerweile drei Jahre her, jedoch, in diesen drei Jahren entwickelte sich die Welt allgemeiner Auffassung nach auch nicht zu ihren Gunsten weiter, zu unseren Gunsten ebenso wenig, und schon gar nicht zu Gunsten der Kinder. Der eine oder die andere mochte in diesen Postcorona-Jahren, beschädigt von Bad News zu Nahost- und Ukrainekrieg, Teuerung und Klimakrise, ja von dem, seien wir uns ehrlich, unleugbaren allgemeinen Niedergang der menschlichen Zivilisation, der abendländischen Kultur und des guten Geschmacks zum Zyniker geworden sein, ich aber nicht, nein, wirklich nicht. Ich dachte mir lediglich völlig unzynisch, als ich wegen eines neuerlichen Schreibcoach-Engagements an einer Neuen Mittelschule angefragt wurde: Wozu soll das bitte gut sein? Diese Generation ist wie die meisten Menschen mittlerweile in sinnlosem Konsum und verrohtem Gestammel verloren, es liest keiner mehr, es spricht keiner mehr, es denkt keiner mehr, weder die Kinder noch die Erwachsenen, die ihren Nachwuchs aufgegeben haben, abgegeben in die Betreuung durch amerikanische oder chinesische Tech-Konzerne, weil sie selbst keine Verantwortung mehr übernehmen können, befinden sie sich doch noch in ihren Vierzigern in einem pubertären Ego-Stage zwischen einundsiebzigster Therapie und fünfunddreißigstem Sabbatical, auf permanenter Sinn- und Wegesuche, da kann man sich nun wirklich nicht auch noch um diese komischen Kinder kümmern, das soll dieses Tik-Tok übernehmen, jetzt ist man erst mal selber dran, denn Aufwachsen in den Achtzigern war bitteschön auch nicht ohne, eigentlich das reinste Guantanamo ... Solcherart nicht erzogen, werden auch die nächsten Generationen konsequenterweise um keinen Deut besser sein, die Abwärtsspirale somit unaufhaltsam, irgendwann, bald, wird man bereits Säuglingen ein Smartphone vors Gesicht schnallen, oder es bekommt gleich irgendein Implantat, die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen wird sich in Folge auf drei Zehntelsekunden beschränken, Bildung relativ sinn- und nutzlos werden, was aber auch egal ist, weil sowieso “irgendeine KI“ den abgewrackten Laden Menschheit übernehmen wird, steuern und regieren, restverwalten, bis die Klimakatastrophe so weit fortgeschritten ist, dass sich das Problem von selbst löst und dieses absurde „Projekt Homo“ nach ein paar hunderttausend Jahren endlich abgewickelt werden kann.
Endlich wird wieder eine Ruh sein auf der Welt! Gott, war das ein Lärm!
Mit einer solchen Perspektive - und man wird zugeben müssen, es ist nicht die unrealistischste - erschien mir also die kleine, cinematografisch von Robin Williams und Michelle Pfeiffer verkitschte Freude darüber, einem bereits bei Geburt und erst recht in späteren Jahren chancenlosen Kind für ein paar Unterrichtseinheiten das Gefühl der wirksamen Selbstermächtigung mittels Sprache zu geben und damit die Illusion, es könnte seinem Schicksal mit einem Stift in der Hand entkommen, sich sein Schicksal wenigstens bewusst machen, mittlerweile wirklich naiv, ja nahezu verbrecherisch gemein, unpolitisch, kritiklos. Und dann ist auch noch just Sieghartskirchen, wo ich werken sollte, vom jüngsten Jahrhunderthochwasser unmittelbar und heftig getroffen worden, einem Ereignis, das als solches die skizzierte apokalyptische Sichtweisen auf den Zustand der Welt nicht unbedingt abschwächt.
Bevor ich mich jedoch ganz in dieser Suada im Stile eines AHS-Professors kurz vor dem Ruhestand (oder den Sommerferien) verliere, halten wir hier inne und fragen uns, warum ich mir, wenn das alles so furchtbar sinnlos ist, das Schulhausroman-Coaching überhaupt noch antue? Wegen dem Geld? Nein. Im östrreichischen Literaturbetrieb gäbe es mit der nötigen Finesse bequemere Wege für einen Schriftsteller, halbwegs über die Runden zu kommen. Die Antwort ist, wenig überraschend, simpel: ganz so furchtbar sinnlos ist die Lage der Welt und der Zustand der Menschen natürlich nicht und die Arbeit mit den Kinder zahlt sich schon aus und ist schon auch schön. Das mit dem nicht ganz so hoffnungslosen Zustand der Welt zumindest glaubt man zwar kaum, wenn man sich frühmorgens von Wien auf den Weg aufs niederösterreichische Land macht (notgedrungen mit einem Bummelbus quer durch den Wienerwald, denn das Hochwasser hat die Hochleistungs-Bahnstrecke Richtung Westen so stark beschädigt, dass eine Zugfahrt unmöglich ist; Ironie der Klimakrise: die Autobahn ist intakt) und in Straßenbahn, in der U-Bahn und eben auch im Bummelbus zu 80 Prozent von ins Smartphone stierenden Zombies umgeben ist. Alternativ bietet der Blick hinaus aus dem Fenster auch hier bloß die Verhunzung der einst schönen österreichischen Landschaft durch Architektur von der Stange und amerikanisch inspirierte Gewerbezonen, von den unzähligen Wahlplakaten auf Laternenmasten und Rolling Boards schaut meist, zumindest auffallend oft, der faschistoide Zwerg mit seiner trotz Lächelversuchs asketisch-lustlos wirkenden Visage in Richtung Vernichtungs- und Endzeitstimmung, und außerdem, zu allem Überdruss, scheint die Sonne nicht. Aber dennoch, so schlimm, so furchtbar sinnlos ist es nicht, sind die Menschen nicht, ist die Welt nicht, das haben wir doch eben erst festgestellt, nein, behauptet! Weil es so ist, Sakra! Das glaubt man allerdings immer noch nicht, wenn man in besagtem Sieghartskirchen ankommt, einem an sich recht hübschen Flecken, wo jedoch angehäufter Sperrmüll auf den Gehsteigen, Schlammreste auf den Straßen und vor allem ein über dem ganzen Ort liegender Fäulnisgeruch von der nur wenige Tage zurückliegenden Flutkatastrophe zeugen, die große Katastrophe, die natürlich über einige Ecke mit der kleinen Katastrophe im Zusammenhang steht, der Katastrophe des Niedergangs des Landlebens, deretwegen Orte wie Sieghartskirchen bereits seit zwei Jahrzehnten beschädigt werden, beschädigt sind, die kleine Katastrophe, die langsamer zwar als ein Hochwasser wirkt, stiller, aber auch nachhaltiger, destruktiver, weil sie die Verödung der kleinen Ortschaften bewirkt, das Aussterben der kleinen Geschäfte, des Lebens auf den Straßen, auf den Plätzen, in den Gärten, in den Menschen ... Denn wenngleich es hier in Sieghartskirchen noch, anders in vielen anderen Ortschaften in diesem Land, die zwar meist schmuck sind, aber leblos, ein Gasthaus gibt, eine Post, eine Bank und eine Konditorei, fürs tägliche Leben und die tägliche Befriedigung einer konsumistischen Gier, das einzige, das als zentraler Lebenssinn geblieben, nachdem die ländliche Kultur zu Folklore und Nazipropaganda verkommen ist, muss man doch ins Autos steigen und rausfahren, das Wichtige wird draußen eingekauft, in die Autos geladen, in die SUVs und Pick Ups, deren Größe die eigene Bedeutungslosigkeit vergessen machen, diese amerikanischen Protzkarren, die man hier braucht, weil man ja an den Ortsrand fahren muss und wieder zurück, in einem Fort, zu den großen Supermärkten mit den großen Parkplätzen, zum Takko und zum Mäci, zum Obi und zum Shoe 4 You, all die Billiggroßläden, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten überall in Österreich auf der grünen Wiese entstanden sind, um die Leute am Land über den Verlust ihrer ländlichen Kultur hinwegzutrösten, über die Lieblosigkeit der Eltern und den Zynismus der Lehrer, über ...
Wie? Ich verzettle mich? Ich weiß, ich weiß, und daher gehe ich endlich in die Schule hinein, in das Schulgebäude, das Schulhaus, das direkt neben dem die Kirche umgebenden Friedhof liegt, der derzeit, weil es zu Absenkungen wegen der Wassermassen gekommen ist, nicht besucht werden sollte, wohingegen die Schule unversehrt geblieben ist, einen Tag nur, sagt mir die Direktorin, als ich endlich in ihrem Büro stehe, nur einen Tag sei die Schule geschlossen gewesen, am Montag nach dem Flut-Wochenende, dann habe ein Notbetrieb begonnen, und ja, vermutlich, bestätigt sie meine Annahme, vermutlich werde das Hochwasser im Schreiben der Kinder Thema sein, denn es ist Thema, etwa wenn es um die Haustiere geht, die nicht mehr aufgetaucht sind ... Haustiere? Ja, Haustiere. Das nämlich dürfte das Hochwasser im Sinne einer großen Katastrophe für Kinder bedeuten: die Katze, der Hase, das Meerschweinchen, die nicht mehr gefunden werden konnten. Denn jetzt kommt der Clou: Alles andere, subsummiert unter „Klimakatastrophe“, die sich ins Totenbett unserer Epoche zur Hisbollah, zu Putin, zu Elon Musk und zum Plastikteppich im Pazifik legt, ist für diese Kinder einfach die Welt an sich, die Normalität, so wie Tschernobyl meine war, die Kubakrise die meiner Eltern, Hitler jene meiner Großeltern. Gute alte Zeit, und doch hat jeder Mensch, während rundum alles bedeutungsschwer und einzigartig und endkampfmäßig und dekadent und furchterregend wirkt doch nur die ganz normalen alltäglichen Sorgen und Nöte im Kopf. Mein Haustier ist gestorben. Meine Noten sind schlecht. Ich steh auf die Hanni, doch sie auf den Herbert.
Es mag also sein, dass die Welt am Sand ist wie noch nie und bald alles den Bach runtergeht, aber bis dahin gibt es halt schlicht und ergreifend all die Menschen, die es halt gibt, Punkt. Deren Leben man ernst nehmen sollte, muss, die was zu erzählen haben. Etwa von John, dem Auftragsmörder, der als Kleinkind seinen Eltern weggenommen worden ist, um von einem Verbrecher großgezogen zu werden und heimlich einen Hund versteckt, der Pablo heißt und das einzige Wesen ist, das er liebt. So die Grundzüge der Geschichte, an der ich mit meiner Klasse in den kommenden Einheiten schreiben werde. Der Plot war ziemlich flott da, ist natürlich von einem Film inspiriert, und klarerweise geht es um Verbrechen und Drogen und Gewalt und all den Trash, aber das ist ja egal, Hauptsache, wir (und in dem Fall die Schüler*innen aus Sieghartskirchen) erschaffen uns mit dem Stift in der Hand eine alternative Wirklichkeit, die nicht, wie es ein großes Missverständnis meint, eine bessere Welt, eine Utopie liefern muss, sondern den Menschen, vom 12jährigen Mittelschüler bis zum 60jährigen Großschriftsteller schlicht entlasten soll durch die Illusion, in einer unkontrollierbaren Welt zumindest hie und da die Zügel in der Hand zu haben, zu bestimmen, wo es lang geht. Eskapismus im besten Sinne.
Insofern: Die erste Einheit war gut. Hoffentlich wird in den folgenden auch viel geschrieben. Dass ich den Zustand der Welt hoffnungslos finde, ist übrigens auch ein bisschen Koketterie, und wenngleich ich überzeugt bin, dass Kinder und Smartphones nicht zusammen passen, ja nicht einmal Tablets in der Unterstufe was verloren haben und wir schon einem ziemlich großen Haufen an Problemen gegenüber stehen, über die hier zu schreiben jedoch eigentlich gar nicht der Platz ist (Sorry!), irgendwie ist es seit der Steinzeit bislang immer weiter gegangen, und auch die heutigen Kids werden sich trotz ausufernder Verblödungsmaschinerie zu verantwortungsvollen Staatsbürger*innen entwickeln.
Zumindest rede ich mir das ein. Im Bus zurück nach Wien höre ich zwei junge Frauen, wahrscheinlich noch keine zwanzig, miteinander reden. Über ihre Botox Behandlungen, die in der Tat unübersehbar sind. Neben mir scrollt sich ein Grundschüler durch seinen Handyschrott, zumindest Orthopäden und Augenärzten winkt das große Geld. Wohl auch Therapeutinnen. Draußen grinst der faschistoide Zwerg.
Vielleicht ist die Welt ja doch am Sand, aber immerhin ist sie ein Quell skurriler Geschichten, ein Autorenparadies.
In diesem Sinne: Bis bald in Sieghartskirchen!
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